Jahr:2021
Fördersumme:145901
Ort:Mülheim an der Ruhr
Förderbereich:Chancengleichheit

discovering hands

Mit Tastsinn gegen den Brustkrebs und für Inklusion

Sie heißen Ineke, Filiz oder Antje – und sie alle eint nicht nur die Tatsache, dass sie blind oder sehbehindert sind. Sie verfügen über eine Gabe, die das Leben von Frauen retten kann: einen außergewöhnlichen Tastsinn.

Brustkrebs ist nach wie vor die häufigste Krebserkrankung und eine der häufigsten Todesursachen von Frauen – jedes Jahr erkranken in Deutschland knapp 70.000 Frauen an Brustkrebs. Mittels der sogenannten Taktilographie, einer ergänzenden Diagnoseform in der Brustkrebsfrüherkennung für alle Altersgruppen, nutzt discovering hands diesen überlegenen Tastsinn und bildet diese Frauen zu professionellen Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen (MTU) aus, die bei Gynäkologen in der Früherkennung eingesetzt werden.

Ausgebildete MTUs ertasten circa 30 Prozent mehr Gewebeveränderungen als Ärzte. Die Deutsche Postcode Lotterie fördert die MTU-Ausbildung und die Arbeit von discovering hands mit 145.901 Euro.

<bR>

Antje Schwarz, die spät erblindete und dank unserer Förderung zur MTU ausgebildet wurde, spricht im Interview über Grauschatten, Gelkissen und ihre Gabe - und von einer Begegnung, die sie nicht mehr vergessen wird.

Wie und wann sind Sie erblindet?
Antje Schwarz: Ich gehöre zu den Menschen, die im Leben spät erblindeten. Ich bin mit einer extremen Kurzsichtigkeit auf die Welt gekommen. Bis ich 37 Jahre alt war, konnte ich noch als Bürokauffrau arbeiten. Ab dann setzte ein Prozess der Erblindung ein, der rund zehn Jahre dauerte. Aufgeben? Das war damals keine Option für mich. Ich habe einen Sohn und einen Ehemann, und ich bin ein positiver, lebensbejahender Typ. Auch wenn ich seit einigen Jahren nur noch herrliche Grauschatten wahrnehme.

Wie sind Sie auf die Arbeit von discovering hands aufmerksam geworden? Antje Schwarz: Ich kannte discovering hands und auch die Untersuchungsmethode der Taktilographie schon vorher. Als ich dann erblindet war und aus verschiedenen Gründen meinem alten Job nicht mehr nachgehen konnte, habe ich die Chance ergriffen. Ich habe mich bei discovering hands für die Ausbildung zur MTU beworben, die auch von der Deutschen Postcode Lotterie gefördert wird – und im August 2020 ging es dann endlich los.

MTUs wird nachgesagt, dass ihr außerordentlicher Tastsinn eine Gabe ist.
Antje Schwarz: Ganz gleich, ob blind oder nicht – wir alle haben besondere Talente. Wir müssen sie nur erkennen und dann trainieren. Klar ist aber auch, dass ich eine besondere Sensibilität in der Hand und den Fingerspitzen habe. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich immer mehr Feinheiten spüren und ertasten konnte.

Was lernen Sie in der Ausbildung zur MTU?
Antje Schwarz: Natürlich geht es um Theorie, um den biologischen Aufbau der Brust und medizinische Fachbegriffe zur Tumorklassifizierung. Die müssen wir im Austausch mit den praktizierenden Ärzten einfach drauf haben. Da wir in der Ausbildung ja zunächst nicht am Menschen üben können, starten wir mit Tastmatten. Wir gehen mit unseren Händen zunächst in die Fläche, dann in die Tiefe. Im nächsten Schritt kommen unter anderem Gelkissen zum Einsatz, in denen kleine Fremdkörper versteckt sind.

Wie gehen Sie bei der Untersuchung vor?
Antje Schwarz: Als erstes führen wir ein ausführliches Gespräch und füllen gemeinsam den Anamnese-Bogen aus. Hier geht es auch um grundsätzliche Fragen und zu möglichen Vorgeschichten. Da erhalte ich bereits ein gutes Bild, ob ein erhöhtes Krebsrisiko besteht. Anschließend klebe ich den Frauen Spezialklebestreifen auf die Brust, an denen ich mich mit meinen Fingern orientieren und entlangfühlen kann. Eine Untersuchung dauert mindestens 40, oft 60 Minuten, aber das hängt natürlich von der Größe der Brust und der zu ertastenden Fläche ab.

Was genau fühlen Sie dann?
Antje Schwarz: Jede Brust hat Drüsen, die nach einem bestimmten System angelegt sind. Je weicher das Bindegewebe und je älter die Frau ist, desto klarer spürbar sind sie. Mit meinen Händen gehe ich auf die Suche nach Veränderungen, die die Natur nicht vorgesehen hat. Das müssen nicht gleich bösartige Tumore sein – es könnten aber welche sein. Und dann gebe ich diese Info an den Arzt für seine Folgeuntersuchung weiter. Die abschließende Diagnose stellt er dann.

Was schätzen Sie an Ihrer Arbeit besonders?
Antje Schwarz: Ich helfe Menschen und lerne spannende Frauen kennen. Und da eine Untersuchung ja nicht gleich nach fünf Minuten abgeschlossen ist, habe ich Zeit, wahnsinnig interessante Gespräche zu führen. Während des Besuchs kann eine intime Gesprächsatmosphäre entstehen – und ich glaube, dass es einigen Frauen hilft zu wissen, dass ich nichts sehen kann.

Gab es einen besonderen Moment, an denen sie sich erinnern?
Antje Schwarz: Oh ja, und der hatte mit einem Mann zu tun. Oder sagen wir mal so: Sie war mal ein Mann. Als wir den Anamnese-Bogen ausfüllten und es zu Beginn um Fragen bezüglich Pubertät ging, unterbrach sie mich. Sie sagte, dass sie diese und alle weiteren Fragen nicht wirklich beantworten könne. Ich war baff, wie offen sie mir erklärte, dass sie als Mann geboren wurde und sich erst vor einiger Zeit komplett umoperieren ließ. Bei der Untersuchung konnte ich spüren, dass sich die Brust anders anfühlte. Nicht vom Volumen, sondern von der Gewebestruktur, die nicht altersentsprechend war. Das war eine spannende Begegnung, die ich nicht mehr vergessen werde.

Das Gespräch führte Nicolas Berthold.

Weitere Projekte aus Ihrer Umgebung

Förderung beantragen

Wir machen uns stark für Mensch und Natur

Die Deutsche Postcode Lotterie fördert Projekte von gemeinnützigen Organisationen aus den Bereichen Chancengleichheit, Natur- und Umweltschutz sowie sozialer Zusammenhalt in ganz Deutschland.

Förderung beantragen